Die Idee der Bildtelefonie ist beinahe so alt wie das Telefon selbst – schon 1878, zwei Jahre nach der Patentierung des Telefons durch Graham Bell, zeichnete der britische Autor und Zeichner George du Maurier eine Szene, in der sich ein Mann und eine Frau via Bildschirm und Telefonhörer unterhielten. Die Firma Bell Telephone Laboratories experimentierte im Feld der Videotelefonie bereits seit den späten 1920er Jahren und im deutschen Science-Fiction-Stummfilm Metropolis von Fritz Lang aus dem Jahr 1927 hatte diese Technologie ihren ersten medialen Auftritt. 1956 wurde erstmals eine echte Demonstration der Videotelefonie mit einem Telefonat zwischen Los Angeles und New York gezeigt. Auf der Weltausstellung 1964 erfolgten weitere Demonstrationen von Videotelefonie zwischen New York und Washington D.C. Auch in der Populärkultur hielt die Videotelefonie bereits Einzug, sei es in der Zeichentrickserie "The Jetsons" (1962/63) von William Hanna und Joseph Barbera oder in Stanley Kubricks Spielfilmklassiker "2001: A Space Odyssey" von 1969. Damals war es allerdings noch unrealistisch, solche Gespräche auch im Alltag zu führen, benötigte man doch für ein Gespräch gleich drei Leitungen, zudem kostete eine Minute Videotelefonie satte 27 Dollar. Die Technik wurde daher von Experten allenfalls als technische Spielerei angesehen, nicht als kommerziell verwertbar. Der Kommunikationsriese AT&T versuchte sich 1970 nochmals an einem Experiment namens "Picturephone" mit einem Bildtelefonnetzwerk in Pittsburgh, musste sich aber eingestehen, dass es nicht alltagstauglich realisierbar war und beendete das Experiment schon bald wieder.
Nun aber zu Atari: Die Atari-Tochter Cyan Engineering griff die Idee der Bildtelefonie 1976 wieder auf. Erste Pläne wurden den Atari-Chefs Bushnell und Keenan vorgestellt, woraufhin Keenan vorschlug, das System eher um ein Spiel bzw. Spielzeug herumzuentwickeln anstelle für eine ernsthafte kommerzielle Verwertung. Larry Emmons, Dave Stokes und Michael Cooper-Hart, letzterer als Projektmanager, begannen daraufhin ernsthaft mit der Entwicklung eines solchen Systems. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Versuchen nutzte das System keine Telefonleitungen, sondern ein speziell entwickeltes Leitungssystem, welches zuerst einmal von einem Büro zum anderen gelegt wurde. Um eine Kompatibilität mit den Telefonleitungen zu sichern, wurde jedoch die Datenübertragungsrate auf das zu dieser Zeit Mögliche beschränkt – man muss bedenken, dass zu dieser Zeit Telefonleitungen in aller Regel nur für Telefongespräche genutzt wurden, die ersten Faxgeräte kamen da gerade erst auf.
Cyan Engineering entwickelte das System namens
Phoney mit der Priorität auf der Stimme, das zu übertragende Videobild wurde quasi während Sprechpausen Zeile für Zeile übertragen. War die übertragung des Bildes von A nach B beendet, begann B mit der Bildübermittlung an A. Eines Nachmittags besuchte Atari-Chef Bushnell samt einem Team das Laboratorium im Grass Valley für eine Demonstration. Im Hauptbüro war ein Teil des Systems aufgebaut, in einem Hinterzimmer der andere Teil. Während der Demonstration schlich sich Bushnell unbemerkt in das Hinterzimmer. Während der Rest des Teams sich im Büro unterhielt, bemerkte Lanny Netz, dass sich das Bild, das bis dahin nur ein leeres Bild war, langsam veränderte. Netz stellte sich auf die andere Seite des Raumes, weg vom Bildschirm, und versuchte, den Rest des Teams mit Gesprächen abzulenken und somit – dadurch, dass viele im Raum redeten – mit den Stimmen die Leitung zu blockieren, damit das Bild nicht weiter übertragen wurde. Half alles nichts – Bushnells nackter Hintern strahlte kurze Zeit später für alle sichtbar vom Monitor. Nach einigen weiteren Experimenten und Unfällen – darunter der, dass beim Abstecken des Netzteils versehentlich eine noch aktive 110-Volt-Leitung auf eine 5-Volt-Leitung traf und damit ungewollt ein Feuerwerk im Laboratorium verursachte – wurde Phoney 1979 jedoch eingestellt und in den Grass Valley Project Summaries unter "Disaster" verbucht.
Die Situation Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre stellte sich in den USA, ähnlich wie in Westdeutschland, so dar, dass die Mehrheit noch mit Wählscheibengeräten telefonierte und Tastentelefone sich noch nicht richtig durchsetzen konnten. Das hing auch damit zusammen, dass bei Wählscheiben das Impulswahlverfahren (IWV) Standard war, während Tastentelefone vorwiegend das Mehrfrequenzwahlverfahren (MFV) nutzten. Um also ein Tastentelefon nutzen zu können, musste das MFV kostenpflichtig zum Hausanschluss dazugebucht werden, was je nach Wohngegend Zusatzkosten von $2 bis $5 pro Monat verursachte. Zusätzlich musste ein Tastentelefon von der AT&T-Tochter Bell Telephone gemietet werden, sie konnten nirgends gekauft werden. Zuletzt musste das Ganze noch von einem Bell Telephone-Techniker installiert werden – natürlich kostenpflichtig. Marktpotenzial für Konkurrenz war also theoretisch definitiv gegeben. Praktisch sah die Sache etwas anders aus: Bell Telephone hatte das Monopol und erlaubte es ursprünglich nicht einmal, dass andere Geräte als die von Bell Telephone installiert wurden. 1956 verlor Bell Telephone ein Gerichtsverfahren, in dem Urteil wurde bestätigt, dass sehr wohl andere – auch modifizierte – Telefone installiert werden dürften, solange sie den Leitungen keinen Schaden zufügen würden. Trotzdem wagten es nur wenige Firmen, eigene Telefone zu entwickeln und zu vermarkten, zu tief war das Gebot, nur Bell-Telefone zu nutzen, im Bewusstsein des US-Konsumenten verankert. Bell Telephone nutzte dies aus und sagte Hausbesitzern bei der drohenden Installation von Mitbewerbergeräten direkt, dass ein eventuell notwendiger Serviceeinsatz dann eben mit sehr hohen Kosten verbunden sei. Diese Monopolstellung bestand bis zum 8. Januar 1982, als das seit 1974 laufende Antithrust-Verfahren des U.S. Department of Justice dahingehend beendet wurde, als dass AT&T seine regional operierenden Tochtergesellschaften abstoßen musste, was einer Verkleinerung des Firmenwertes um 70% bedeutete. Ab diesem Zeitpunkt war es praktisch "gefahrlos" möglich, andere Telefone als die von Bell zu nutzen. Im Januar 1984 wurden diese Tochtergesellschaften in sieben unabhängige Regional Bell Operating Companies (scherzhaft "Baby Bells" genannt) aufgeteilt.
Steve Bristow stellte 1981 ein Marktforschungs- und Entwicklungsteam zusammen und das
Project P wurde aufgenommen, nachdem ein Ingenieur in die Entwicklungsunterlagen von
Phoney einfach dazuschrieb "Try it again" (dt.: "Versucht es nochmal"). Ziel des Teams war es, den Telekommunikationsmarkt zu revolutionieren, denn es sah zu dieser Zeit ganz danach aus, als würde AT&T das Antithrust-Verfahren verlieren und das Telefonmonopol ein Ende finden. Phoney sollte dazu unter dem Namen
Eagle Eye den Grundstein bilden. Erste Prototypensysteme wurden Manny Gerard und Steve Ross in New York vorgestellt, und Warner Communications war durchaus daran interessiert. Sie beauftragten Bristow mit der Gründung einer eigenen Division innerhalb Ataris, die im März 1982 vorerst
Project Falcon getauft wurde. Innerhalb Ataris wurde die neue Produktlinie ebenso begrüßt, hatten doch in der Vergangenheit Marketingleiter und Vorstand immer wieder neue Spielkonsolensysteme torpediert, da sie fürchteten, sie könnten die VCS-Verkäufe – oder vielmehr ihre üppigen Boni – beeinträchtigen. Hier kam nun eine Produktidee, die mit Videospielen gar nichts am Hut hatte und damit keine Gefahr für sie war.
Geplant waren für die Atari-Telefone damals noch weitgehend unbekannte Funktionen wie Wahlwiederholung, Anklopfen, Stummschalten, Halten und Vollduplex. Auch Funktionen zur Steuerung der Hauselektrik waren geplant, quasi ein Vorläufer des Smart Home Konzepts; ebenso die übertragung per Stromleitung anstelle einer separaten Telefonleitung, diese sollte in der Telectra-Serie ihre Anwendung finden. Telefonanschlüsse waren seinerzeit nur in den wichtigsten Räumen im Haus zu finden, etwa der Küche oder dem Wohnzimmer, seltener auch im Schlafzimmer. Was durchaus ein Nachteil war, denn zum Verlegen neuer Telefonleitungen und -dosen musste wieder die Telefongesellschaft anrücken, was sie nicht kostenlos taten. Der Vorteil der Power Line-Telefone war, dass es eine Masterstation gab, die an die bestehende Telefondose angeschlossen wurde, ein weiteres Kabel ging dann in eine freie Stromsteckdose. Der Besitzer konnte nun mehrere Telefone dazukaufen und sie einfach an einer anderen freien Stromsteckdose im Haus anschließen. Die Telefone konnten natürlich wie eine Haussprechanlage auch untereinander kommunizieren, sogar dahingehend, dass man in einem Zimmer mit beispielsweise der Küche telefonieren, den Anruf auf HOLD setzen und von einem anderen Telefon aus einem anderen Zimmer den Anruf wieder aufnehmen konnte.
Während der nächsten zwei Jahre drehte sich vorwiegend alles um die Entwicklung und das Design, für letzteres wurden auch Firmen wie Porsche Design und Morison Cousins Associates verpflichtet. Von Morison Cousins wurde vor allem das Space-Tel Design von 1981 verwendet, welches heute im Museum of Modern Arts (MoMA) ausgestellt ist. Im März 1983 wurde die Arbeit der AtariTel-Division nach zwei Jahren geheimer Arbeit endlich öffentlich gemacht. Auch auf der Telephone Show in San Francisco später in diesem Jahr wurde AtariTels Arbeit präsentiert.
Das AtariTel Eagle Telefon,
basierend auf dem Entwurf von Morison Cousins
Bild: atarimuseum.com
Leider verhinderte ausgerechnet der Video Game Crash in Nordamerika und die damit einhergehende finanzielle Schieflage Ataris weitere Arbeiten an AtariTel. Im Oktober 1983, einen Monat, nachdem der neue CEO James Morgan seine Stelle antrat, wurden etliche Arbeiten im Hause Atari gestoppt, darunter auch AtariTel. Die meisten Mitarbeiter der Division wurden in andere Bereiche versetzt oder verließen die Firma – selbst Bristow wurde in die Home Computer Division versetzt, um dort mit Dave Stubben an möglichen neuen Computern und Marketingstrategien zu arbeiten. Im April 1984 jedoch verkündete das Atari-Management, dass die Vermarktung von Telefonen auf Basis der AtariTel Division in Erwägung gezogen werde. Bei dieser Ankündigung blieb es jedoch, und Cyan Engineering wurde darüber informiert, dass mit AtariTel auch deren Videotelefonprojekt "Project P" eingestellt wurde.
Bei der Aufteilung Ataris zwischen Tramel Technologies auf der einen und Warner Communications auf der anderen Seite später im Jahr verbleibt die (geschlossene) AtariTel Division bei Warner. Die Leute um Bristow versuchen dann, AtariTel aus Atari bzw. Warner herauszukaufen, was Warner jedoch kategorisch ablehnt. Stattdessen verhandelt Warner-Manager Gerard mit Medama, einer Tochter von Mitsubishi Electric, über den Verkauf des Videotelefon-Projekts. Während eines Treffens zwischen AtariTel, Medama und Warner Communications wird im Warner Building in New York das Cyan Videotelefonset aufgebaut. Im Grass Valley bereitet Michael Cooper-Hart eine Videoübertragung vor, um dem Mitsubishi-Team aus Japan eine Demonstration liefern zu können. Larry Emmons von Cyan Engineering ist ebenso zur Stelle und ruft Cooper-Hart an, dieser sagt ihm, ein Freund sei vorbeigekommen um ihn zu sehen und das Bild eines Playboy-Centerfolds erscheint auf dem Bildschirm im Warner Building, woraufhin die Anwesenden im Warner-Konferenzraum in Lachen ausbrechen. Der Deal wurde mit dieser Aktion mehr oder weniger besiegelt.
Gerard merkt während der Verhandlungen, dass Stan Zawadowicz, der die Verhandlungen im Auftrag von Medama führt, entschieden zu viel über
Project P weiß, insbesondere Dinge, die nicht in den Unterlagen stehen oder vorher angesprochen wurden, und vermutet ein Leck bei AtariTel. Anstatt das Leck auffliegen zu lassen, entscheidet sich Gerard dazu, dieses zu seinem Vorteil zu nutzen. Er behauptet während Gesprächen zwischen Warner und AtariTel, dass Warner ein sehr viel attraktiveres Angebot erhalten hätte und Warner es in Erwägung ziehen würde, mit dieser Firma zu verhandeln. Zawadowicz erhöht sofort sein Angebot und Gerard schlägt zu, und das Videotelefon-Projekt wird zu einem weit höheren Preis als ursprünglich geplant an Medama verkauft. Cooper-Hart, Chris Wright und Roy Elkins wechseln mit zu Medama, wo sie auf Kurt Wallace treffen, den ehemaligen Boss von Nolan Bushnell aus Ampex-Zeiten. Das Videotelefon-Projekt erscheint im Jahr 1986 als
Mitsubishi Lumaphone auf dem US-Markt und ist damit das einzige Projekt der AtariTel Division, das es zur Marktreife geschafft hat.
Das Mitsubishi Luma LU1000
Verschiedene Modelle des Eagle-Konzepts
Bild: atarimuseum.com
Letzte Bearbeitung: 28. Januar 2024